Auf der ispo 2003 lud ein gewisser Jeremy Moon zu einem Pressegespräch. Jeremy saß wie ein Pennäler auf einem Tisch, ließ die Beine baumeln und pfiff auf einer Signalpfeife, die unter der Zunge klemmte. „Das machen die Schaffarmer in Neuseeland“, sagte er. Die Botschaft damals: Merinowolle ist die Funktionsfaser der Zukunft. Ein paar Wochen vorher hatte ich Gardner Flannigan von Smartwool getroffen, der mir Ähnliches eröffnete. Es gab zwar schon vor Icebreaker und Smartwool funktionelle Wolle, etwa bei Ortovox oder Ullfrotte/Woolpower, aber sie spielte eine marginale Rolle als Umsatzträger. Heute ist Merino die „Materialinnovation“ des 21. Jahrhunderts.
Smartwool und Icebreaker und Co. haben Wort gehalten. Kratzfreie Merinowolle ist Funktion pur. Sie ist atmungsaktiv, hat Wicking-Eigenschaften, ist temperaturregulierend im Sommer und Winter, speichert Feuchtigkeit, ohne sich unangenehm feucht anzufühlen und wärmt auch dann. Auch auf längeren Touren kann man sie tagelang tragen, weil sie einen natürlichen Geruchsschutz hat. Sie ist schwer entflammbar, lädt nicht elektrostatisch auf und hat einen natürlichen UV-Schutz. Moderne Merino ist obendrein pflegeleicht, knitterfrei und in der Maschine waschbar. Und: Merinowolle ist eine nachwachsende Faser und biologisch abbaubar. Das alles geht, weil Wolle gleichzeitig hydrophob (wasserabweisend) wie hygroskopisch ist (nimmt Feuchtigkeit aus der Umgebung mit höherer Luftfeuchtigkeit auf). Das kann keine synthetische Faser.
Wolle besteht aus Eiweißmolekülketten, Keratin, und Proteinen wie Haaren, Schuppen, Hufen, Nägel oder Daunen. Die Eiweißmolekülketten bilden Fibrillen. Diese werden in Fibrillenbündeln zusammengefasst, die wiederum der innere Teil von Spindelzellen sind. Viele Spindelzellen bilden dann eine Wollfaser, die außen von Schuppen umfasst ist. Die Struktur der Wolle macht sie enorm elastisch und gibt ihr die unzähligen Funktionen, etwa den selbstreinigenden Effekt oder die Unempfindlichkeit gegenüber Gerüchen. Gleichzeitig sorgt die Struktur für viel Lufteinschluss und damit Wärme.
Damit Wolle beim Waschen nicht eingehen kann, müssen auf der äußersten Schicht die Schuppen entfernt werden. Passiert dies nicht, dann verhaken diese Schuppen ineinander und ziehen sich immer enger zusammen – die Wolle schrumpft und verdichtet sich. Wie umweltfreundlich das passiert, ist schon ein Unterschied. Chlor ist ein gängiges Verfahren. Besser wäre Ozon, aber auch dazu gibt es Alternativen.
Die Kratzfreiheit ist keine intrinsische Eigenschaft von Merino. Diese liegt an der Feinheit der Faser und wird in ‚Mikron‘ angegeben. Ein Mikron ist ein tausendstel Millimeter. Je kleiner die Zahl, desto feiner die Wolle. Die Zauberzahl hier ist 22. Darüber wird Wolle als kratzig empfunden. Kratzfreie Merinowolle hat eine Feinheit von 16 bis 19 Micron.
Für die Qualität der Wolle spielen auch die Faserlänge, die Faserfestigkeit, die Farbreinheit oder die Reinheit des Wollballens bis hin zum Futter der Schafe eine Rolle. Zucht und Auslese verbessern die Qualität. Das ist aber ein Prozess und ein Grund, warum die Wolle von der Südhalbkugel (von Neuseeland, Tasmanien, Australien, Südafrika bis zum Cono Sur Lateinamerikas) so hochwertig ist. Wolle wurde schon Anfang des letzten Jahrhunderts nach Europa exportiert.
Es gibt eine ganze Reihe von Spinnverfahren, um Garne herzustellen. Teilweise liegt das am Grundmaterial – kurze oder längere Stapelfasern – und natürlich am gewünschten Endergebnis. Die Südwoll Group, einer der größten Spinnereien, listet 14 Spinntechnologien auf.
Die klassische Variante sind Ringspinngarne (Ring-Spun Yarns). Die Fasern werden dabei umeinander gezwirnt. Dieser „Dreh“ gibt dem Garn eine höhere Festigkeit und erhöht die Belastbarkeit der Garne. Ringgarne gelten als Regel, Ortovox spricht sogar von einer Art „Norm bei der Verarbeitung von Wolle.“ Ringgarne können aus kurzen Stapelfasern gesponnen werden, je langfaseriger aber das Rohmaterial, desto stabiler und reißfester das Ergebnis.
Für Rotorgarne (Rotor-Spun Yarns) werden meist Kurzstapelfasern genommen. Das Garn ist glatter und gleichmäßiger, aber auch etwas schwächer als Ringgarne. Twistless Garne entstammen einer Technologie, die bei Outdoor Wolle eher selten eingesetzt wird. Hierbei werden die Fasern nicht durch Drehen, sondern durch Verkleben zusammengehalten.
Bei Wickelgarnen (Wrap Spun Yarns) wiederum werden verschiedene Fasern verbunden, indem sie umeinander gezwirnt werden. BetaSpun (ein Markenname der Südwoll) ist eine Wickelgarnkonstruktion, „die aus einem Filamentgarn besteht, das um ein Merinogarn gezwirnt ist“, so Südwolle. Das ergibt ein Garn „das immens strapazierfähig, hoch abriebfest, leicht ist und deutlich weniger Pilling erreicht.“
Salewa nutzt BetaSpun bei der ‚Zebru Warm Serie’. Die “feinste Merinofasern werden kompakt versponnen und gleichzeitig mit einem PA Filament Garn gezwirnt,“ so Christine Ladstätter, Innovation und Special Projects Manager bei Salewa. „Diese Spinntechnologie unterstützt auch die Glätte des Garns und ist so für sehr empfindliche Hauttypen geeignet und ist dabei aber 25% wärmer“, betont sie. Ebenfalls BetaSpun ist die kühlende Sommervariante mit Tencel.
Core-Spun Garne sind gängige Technologie bei Merinowolle im Bereich Outdoor. Dabei wird ein zentraler Kern, in der Regel Polyester, mit Merinowolle umwickelt. So lässt sich der weiche Touch von Merino mit einer robusteren Faser kombinieren und behält doch die Wolle zu 100% auf der Haut. Neben Robustheit kann Core Spun auch andere Vorteile kreieren wie mehr Elastizität, wenn man einen anderen Kern (z.B. PU) nutzt. Häufig wird der Kern deshalb auch als „Seele“ bezeichnet
Bei Merinowolle ist für die meisten Hersteller das Robustheitsargument entscheidend, da sehr feine Waren (150 Gramm-Qualitäten oder geringere) anfällig sind und in der Nutzung oder im Nasszustand relativ leicht reißen können. „Wir haben herausgefunden, dass wir das Material um das Doppelte verstärken können, indem wir im Kern einen hochfeinen Nylonfaden verwenden und diesen mit Merinowolle ummanteln, ohne dabei das Trageerlebnis von reinem Merino auf der Haut zu beeinträchtigen“, betont deshalb auch Icebreaker Gründer Jeremy Moon, dessen Marke stark auf Core Spun setzt.
Blends (Verbundgarne) bestehen aus „zwei oder mehr unterschiedlichen Fasersträngen in einer Kern-Wickel-Struktur mit der Idee, einen Nettoeffekt zu erzielen, der die Eigenschaften des Kerns und der Umhüllungskomponenten kombiniert“, so die Theorie.
Die Schweizer Marke Super.Natural wurde 2012 gegründet, um „die Vorteile von Merinowolle und Kunstfaser zu vereinen“. Motto: „Merino made better“. Super.Natural geht so weit, dass sie behaupten, „der Merino-Mix schließt die Nachteile beider Fasern komplett aus.“ Das ist natürlich Marketing, denn auch beim Mischen setzt man immer Prioritäten. Ein langer Polyester-Kern erhöht vielleicht die Reißfestigkeit, wirkt sich aber nicht auf den Abrieb der „weichen“ Merinohülle aus. Polyester im Wickelverfahren bringt besseren Abriebschutz, aber man hat nicht mehr 100% Merino auf der Haut. Ist der Blendanteil Tencel, hat man dafür eine kühlende Wirkung, mit Seide eine bessere rutschende Oberfläche im Lagensystem oder mehr Hautfreundlichkeit. Hier lässt sich gezielt ein Funktionssortiment zusammenstellen.
Super.Natural spricht im Base-Bereich von „Advanced Jersey“ in unterschiedlichen Gewichten bei einem 50/50er Blend. Angaben zum Spinnverfahren macht die Marke nicht. Man kann zugutehalten, dass eine Technologiedebatte die Sache verkomplizieren würde. Immerhin gibt es neben ‚Advanced Jersey’ auch noch ‚Terry Loop’, ‚Ponte Roma’, ‚Wool Cotton’, Contact Stretch Jersey’ oder ‚Wool Poly Brush’ und ‚Wool Poly Knit’.
Auch Ortovox hat Blends. „Die Gründe, warum wir mit Blends arbeiten sind ganz klar, dass sie vor allem bei Merinowolle die Langlebigkeit des Materials verbessern und man einfach mehr technisch funktionale Möglichkeiten hat“, so Stefan Krause, Head of Product bei Ortovox. Bei den Verfahren setzt Ortovox Ring-Spun bis Core Spun.Engel Sports baut da „nur“ auf eine Mischung: „Unsere Engel Sports-Wäsche und Bekleidung wird aus 70% Merinowolle, 28 % Seide und 2 % Elasthan hergestellt“, so Gabriele Kolompar, GF Engel Sports. Dafür kommuniziert Kolompar den Herstellungsprozess: „Der Wollkammzug wird zunächst waschmaschinenfest ausgerüstet im NatureTexx-Verfahren, danach werden die Wollkammzüge und die Seidenkammzüge separat gefärbt. Erst dann werden die gefärbten Kammzüge im Kammzugspinnverfahren zum Wolle/Seide-Garn versponnen.“
Blends sind eine Gratwanderung für den Komfortfaktor von Merino. „Bei einem Anteil von mindestens 40% ist die Wolle stark spürbar und beeinflusst auch maßgeblich die Funktion des Materials. Je näher das Material am Körper liegt, desto mehr Wollanteil sollte das Kleidungstück aus unserer Sicht haben“, so Ladstätter. „Grundsätzlich möchten wir den Anteil der Wolle so hoch wie möglich halten, da es sich um eine hochfunktionale Faser und nachwachsende Ressource handelt.“
Dabei kommt es auch darauf an, wo die Wolle ist. „Woolower-Produkte werden in einem Verhältnis von ca. 2/3 Merinowolle 1/3 synthetischer Fasern hergestellt,“ sagt Jesper Rodig, CEO Scandic Outdoor Vertrieb D von Woolpower, „aber an der Haut ist fast nur Merino.“ Die Marke setzt verarbeitungstechnisch auf ein Frottee-Gestrick mit „Terry Loops’, einer Schlingen- und Schlaufenkonstruktion, die sehr viel Luft einschließt. „Tatsächlich bestehen 80 Prozent des Stoffes aus Luft“, sagt Rodig und betont: „Daran halten wir bis heute fest und stellen nicht nur funktionelle, sondern auch sehr langlebige Kälteschutzbekleidung her, die sich nicht schnellwechselnden Trends anpassen muss.“
Für den Winter kommt mit Artilect eine neuer Player auf den deutschen Markt. Die Marke wirbt mit einem neuen Garn, dass 20% leichter und einen 35% höheren Loft habe, so Wolfgang Jahn, Head of Sales Artilect Studio. Die Amerikaner setzen dabei auf einen neuen Garnlieferanten: Nuyarn. Nuyarn hat nicht nur ein innovatives Spinnverfahren entwickelt, sondern dieses wissenschaftlich durch das internationale und unabhängige Testlabor ‚AG Research‘ in Neuseeland prüfen lassen.
„Bei konventionellen Spinnverfahren werden die Wollfasern gezogen und entweder straff wie ein Seil verdrillt (Ring-Spun) oder ebenfalls unter Zug miteinander verdreht und dann um einen Kernfaden gewickelt (Core-Spun)“, erzählt Jahn. „Beide Verfahren komprimieren die natürlichen Lufteinschlüsse, belasten die Fasern, bilden Schlingen und schränken natürliche Bewegung der Fasern ein. Dadurch ist die Wolle anfällig für Abrieb, Löcher, Pilling, zu viel Feuchtigkeitsaufnahme mit langsamer Trocknung und geringerer Isolationsleistung“, stellt er fest. Beim patentierten Nuyarn-Verfahren wird das Garn aus zweilagigen Merino-Fasern ohne Spannung zu einem Garn verarbeitet, wobei sich die Merino-Fasern um einen Polyamid-Kern legen. Der Vorteil: Dadurch wird die natürliche Faserstruktur erhalten, es entstehen keine Faserbrüche, die zu Kratzen, Pilling oder Löchern führen. Der Lufteinschluss ist deutlich größer, was die Trocknung beschleunigt und die Isolationsfähigkeit erhöht. Die Vorteile dieser zweilagigen Faserkonstruktion: Ein natürlicher Stretch ohne Elasthan, der 35% über dem konventioneller Merino-Garne liegt und über die gesamte Lebensdauer erhalten bleibt. Das wiederum bedeutet eine 5-mal schnellere Trocknungszeit als sie konventionell erzeugte Merino-Produkte bei einer deutlich größeren Haltbarkeit von +50%.
Artilect hat mit dem Garn aber kein Alleinstellungsmerkmal. Salewa setzt die Nuyarn Technologie in der Cristallo Serie beim Alpine Merino Responsive Jersey ein. Innovation und Special Projects Manager Ladstätter zeigt sich aber ähnlich begeistert: „Diese Garntechnologie arbeitet mit den natürlichen Eigenschaften der Wolle und will die natürliche Kräuselung und somit auch die natürliche Elastizität erhalten.“
Merinowolle ist nicht gleich Merinowolle. Die unterschiedlichen Spinnverfahren wirken sich unterschiedlich auf den Wollstrick aus – sei er weicher, glatter, fester, lockerer, dehnbarer oder aufgerauter. Und je nach Blend hat man mehr Wärme, einen kühlenden Effekt oder eine (subjektive) bessere Hautverträglichkeit. Für den Handel heißt es, daraus ein Ganzjahresprogramm zu stricken, ohne die Kunden*innen und Kunden inhaltlich zu überfordern. Hilfreich ist da die Haptik anhand derer man Einsatzbereiche oder Vorteile „greifbar“ machen kann, um die Kunden*innen für Stoffe und Produkte zu begeistern. Früher hieß das mal Einkaufserlebnis.
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